Carl von Ossietzky Biografie: Erste Jahre und Liebe zu Maud Hester Lichfield-Woods (1889-1914)

(Lesezeit etwa 6 Minuten, Stand 19. März 2023)

Sie befinden sich im ersten Kapitel der Biografie „Carl von Ossietzky in 30 Minuten“:

  1. Erste Jahre und Liebe zu Maud Hester Lichfield-Woods (1889-1914)
  2. Soldat im Weltkrieg und Friedensaktivist in Hamburg (1914-1919)
  3. Publizist und Antifaschist in Berlin (1919-1933)
  4. Reichstagsbrand und Tod (1933-1938)

Kindheit im Hamburger Gängeviertel

Carl von Ossietzky wird am 3. Oktober 1889 in Hamburg geboren. Er wächst auf der Großen Michaelisstraße in der Hamburger Neustadt auf, unweit des Hafens und der Elbe. Sie verbindet den großen, also den evangelischen Michel (die Hamburger Hauptkirche) mit dem so genannten kleinen und katholischen Michel:

Große Michaelisstraße, Blick vom kleinen, katholischen "Michel" (vorn links im Schatten) zum großen evangelischen "Michel" (Hamburger Hauptkirche), Postkarte, Hamburg, ca. 1900 (optimiert mit Remini AI).
Große Michaelisstraße, Blick vom kleinen, katholischen „Michel“ (vorn links im Schatten) zum großen evangelischen „Michel“ (Hamburger Hauptkirche), Postkarte, Hamburg, ca. 1900 (optimiert mit Remini AI).

Die Straße könnte ein Symbol für die Partnerschaft von Carl von Ossietzkys Eltern sein, denn sein Vater ist katholisch, seine Mutter evangelisch.

Hamburg zählt zu dieser Zeit knapp 600.000 Einwohnerinnen und Einwohner, fast doppelt so viele wie noch 20 Jahre zuvor. In den 1880ern wird außerdem mit dem Bau der Speicherstadt begonnen. Etwa 24.000 Hafenarbeiter verlieren dadurch ihre Wohnungen. Um weiterhin in Hafennähe leben zu können, siedeln sie sich in den Gassen und Hinterhöfen der umliegenden Viertel an. Überall herrscht Wohnungsnot und viele Menschen leben in schwierigen, prekären Verhältnissen.1 Gleichzeitig vollzieht sich ein großer kultureller und technologischen Wandel: Ein rationales, wissenschaftliches Weltbild erreicht breitere Teile der Bevölkerung, während Nationalismus und Militarismus das Denken und Fühlen vieler Menschen bestimmen.

Blick vom „Michel“ (Hamburger Hauptkirche) auf den Hafen, die Lagerhäuser der neuen Speicherstadt stehen bereits (mittig links), zwei große Dampfschiffe fahren auf der Elbe ein (Foto: 1929; Scan, Privatbesitz Robert Matthees, optimiert mit Remini AI).
Blick vom „Michel“ (Hamburger Hauptkirche) auf den Hafen, die Lagerhäuser der neuen Speicherstadt stehen bereits (mittig links), zwei große Dampfschiffe fahren auf der Elbe ein (Foto: 1929; Scan, Privatbesitz Robert Matthees, optimiert mit Remini AI).

Nach dem frühen Tod seines Vaters 1891 kommt Carl von Ossietzky einige Zeit bei seiner Tante unter. Sie lebt ebenfalls im sozial schwachen Hamburger Gängeviertel, das die Große Michaelisstraße umgibt. Der Name Gängeviertel leitet sich dabei aus der dichten Bebauung ab. Oft führen nur schmale Zugänge zu den dunklen Hinterhöfen und Eingängen der überfüllten Wohnhäuser. Bis 1907 nennt Carl es sein Zuhause.2 Der Fotograf Paul Wuttke (1872-1945) fängt um 1900 daraus einige Eindrücke mit seiner Kamera ein:

Bewohnerinnen und Bewohner des Gängeviertels in der Hamburger Neustadt (Foto: Paul Wuttke, 1902; optimiert mit Remini AI).
Bewohnerinnen und Bewohner des Gängeviertels in der Hamburger Neustadt (Foto: Paul Wuttke, 1902; optimiert mit Remini AI).

Im Sommer 1892, Carl ist knapp drei Jahre alt, ist es außergewöhnlich heiß in der Stadt. Die Pegelstände der Elbe und Fleete, wie die Kanäle hier heißen, sind sehr niedrig. Eine verheerende Cholera-Epidemie bricht aus (eine Durchfallerkrankung, die schnell zum Tod führen kann). „Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln, die man mir gezeigt hat“, schreibt der Mediziner und Mikrobiologe Robert Koch an Kaiser Wilhelm II..3 Zum Glück überlebt Carl von Ossietzky die Epidemie, die vor allem im Gängeviertel am Hamburger Hafen viele Todesopfer fordert. Die Hygiene ist hier besonders schlecht: Das Trinkwasser wird direkt aus der Elbe gewonnen, oft verstopfen Aale und andere Tiere die Wasserleitungen.4

Wer die Großstadt kennt, weiß um die sozialen Unterschiede. Noch heute sind sie überall sichtbar. Zu Zeiten Ossietzkys war das Gefälle noch um ein Vielfaches größer. Der Historiker Werner Boldt schreibt, er könne sich gut vorstellen, wie der junge Ossietzky vom Fenster aus die Kutschen des eleganten Bürgertums beobachte, unterwegs zum sonntäglichen Gottesdienst, während um ihn herum großes Elend herrsche.5 Seine Herkunft aus dem Kleinbürgertum prägt Ossietzky deutlich.

Carl von Ossietzky, etwa 1893, ca. 4-jährig
Carl von Ossietzky, etwa 1893, ca. 4-jährig (optimiert mit Remini AI).

Schulzeit und eigene Bildung

Der ehemalige Arbeitgeber seines 1891 verstorbenen Vaters ist der Jurist Max Predöhl, seit 1893 Senator und ab 1910 Hamburger Bürgermeister. Er fördert den jungen Carl so gut es geht. Durch ihn besucht Carl von 1896 bis 1904 die Rumbaumsche Schule, in der die Söhne des gehobenen mittleren Bürgertums auf ihre kaufmännischen Karrieren vorbereitet werden.

Carl von Ossietzky, etwa 1904, ca. 15-jährig
Carl von Ossietzky, etwa 1904, ca. 15-jährig (optimiert mit Remini AI).

Carl von Ossietzky ist hier jedoch fehl am Platz. Vor allem Mathematik bereitet ihm Probleme, aber auch Deutsch fällt ihm schwer. Seine Bildung erarbeitet sich Carl vielmehr durch selbständige Lektüre und Theaterbesuche. Die Prüfung für eine Beamtenlaufbahn besteht er nicht. Beim Amtsgericht findet Carl von Ossietzky 1907 schließlich eine Anstellung als Hilfsschreiber (ein einfacher Sachbearbeiter ohne Festanstellung).6

Arbeit und erste Artikel

Ab hier beginnt für Carl von Ossietzky eine Art Doppelleben: Tagsüber ist er im Beruf, mit viel Monotonie und wenig Geld, danach besucht er Vorträge und beteiligt sich an Diskussionen, zum Beispiel bei der Deutschen Friedensgesellschaft. Ihn interessieren sozialistische und demokratische Themen. Aufgrund guter Leistungen wird er 1910 ins Grundbuchamt versetzt.

Ab 1911 folgen auch erste Artikel. Konkret erscheint am 25. Februar eine Theaterkritik von Carl von Ossietzky in Das freie Volk. Dies ist eine Zeitschrift der Oppositionspartei Demokratische Vereinigung zu den Themen Politik und Kultur. Da ist er 21 Jahre alt. Schnell folgen weitere. Sie enthalten durchaus bereits spannende Sichtweisen. “Wohin […] der Kapitalismus seinen Fuß setzt“, schreibt er zum Beispiel am 19. April 1913, „dahin folgt ihm wie sein Schatten die Arbeiterbewegung mit ihren sozialistischen und demokratischen Tendenzen, die wir heute als sicherste Gewähr für den Frieden ansehen müssen.”7 Seine Texte warnen vor Verführung im Nationalismus und plädieren für Demokratie und Frieden.

Davon handeln auch die Vorträge, die er beginnt, bei der Deutschen Friedensgesellschaft zu halten. 1913 wird Carl von Ossietzky außerdem Schriftführer der Hamburger Ortsgruppe der Demokratischen Vereinigung. Ebenso erhält er seine erste Geldstrafe: Aufgrund seines Artikels „Das Erfurter Urteil“ vom 5. Juli 1913 wird er am 7. Mai 1914 wegen „Beleidigung der Militärgerichtsbarkeit“ verurteilt.8

In seiner Hamburger Zeit bleibt die Öffentlichkeit, die Carl von Ossietzky erreicht, indes noch klein. Dies wird sich später in Berlin ändern. Selbst in Südamerika werden Lesekreise entstehen, die seine Publikationen besprechen.

Die Suffragettin im Dammtor-Café

In Hamburg tritt außerdem eine Frau in sein Leben: Maud Hester Lichfield-Woods, die Tochter eines englischen Kolonialoffiziers und Urenkelin einer indischen Prinzessin. Maud wird in Indien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern kommt sie mit sieben Jahren bei ihrer Tante im strengen, viktorianischen England unter. Schon früh schließt sich Maud den Suffragetten an, den britischen Frauenrechtlerinnen. Sie hält im Londoner Hyde Park Reden, nimmt an Hungerstreiks teil und setzt sich für ein allgemeines Frauenwahlrecht ein. Maud Lichfield-Woods ist eine selbstständige und selbstbewusste, gebildete Frau mit internationalen Wurzeln und ebenso internationalem Erscheinungsbild.9

Maud Hester Lichfield-Woods, ca. 18-jährig in London
Maud Hester Lichfield-Woods, ca. 18-jährig in London (optimiert mit Remini AI).

Auf den jungen Ossietzky hinterlässt sie jedenfalls einen nachhaltigen Eindruck: Während Maud einige Zeit bei einer Freundin in Hamburg lebt, sitzt sie eines Tages in einem Café und wartet auf ein Date. Es handelt sich um das Dammtor-Café, heute steht dort das Cinemaxx-Kino.

Postkarte vom Dammtor-Café, Hamburg, gestempelt am 16.04.1915
Postkarte vom Dammtor-Café, Hamburg, gestempelt am 16.04.1915 (Scan, Privatbesitz Robert Matthees, optimiert mit Remini AI).
Postkarte vom Dammtor-Café, Hamburg, gestempelt am 23.12.1915 (optimiert mit Remini AI)
Postkarte vom Dammtor-Café, Hamburg, gestempelt am 23.12.1915 (Scan, Privatbesitz Robert Matthees, optimiert mit Remini AI).
Postkarte vom Dammtor-Café, Hamburg, 1913
Postkarte vom Dammtor-Café, Hamburg, gestempelt am 11.09.1913 (Scan, Privatbesitz Robert Matthees, optimiert mit Remini AI).

Die Person, auf die Maud an einem der Marmortische wartet, schafft es nicht. Dem Arzt ist eine Operation dazwischen gekommen. Stattdessen schickt er einen Freund, um sich zu entschuldigen. Whatsapp und Smartphone gibt es schließlich noch nicht. Und so macht sich der 22-jährige Ossietzky auf den Weg — wie es der Zufall manchmal eben so will: “Ich wollte gerade aufbrechen”, schreibt Maud 1966 in ihren Erinnerungen, “da stand vor mir ein blasser, schüchterner Jüngling. Sehr bald entpuppte er sich als ein gewandter und kluger Gesprächspartner: Er schien sich zu verwandeln, wenn er sprach, die Worte strömten drängend hervor und hellten das Gesicht erstaunlich auf. […] Von seiner anfänglichen Schüchternheit war nichts mehr zu merken. Seine großen blauen Augen in einem fein geschnittenen, jetzt nicht mehr blassen Gesicht, unter glattem blondem Haar blickten mich frei und offen an.”10

Carl von Ossietzky, etwa 26 Jahre, circa 1915
Carl von Ossietzky, etwa 26 Jahre, circa 1915 (Sammlung DHM Berlin, optimiert mit Remini AI).

Maud ist offiziell ein Jahr älter als Carl, eigentlich sind es fünf. Auf dem Papier macht sie sich etwas jünger.11 “Im Laufe der Unterhaltung merkte ich”, erzählt sie weiter, “daß er sehr viel über die Suffragettenbewegung [Frauenrechtlerinnen] in England wußte. Es schien mir damals, daß er überhaupt alle Organisationen, die für die Befreiung unterdrückter und leidender Menschen wirkten, kannte. Trotz seiner Jugend hatte er sich schon ein festes Ziel gesteckt: die soziale Ungerechtigkeit, wo immer sie auftrat, anzuprangern und zu bekämpfen. Wir trafen uns häufig.”12

Maud Hester Lichfield-Woods & Carl von Ossietzky, Verlobungsfoto, 23. Mai 1912 (optimiert mit Remini AI).
Maud Hester Lichfield-Woods & Carl von Ossietzky, Verlobungsfoto, 23. Mai 1912 (optimiert mit Remini AI).

Maud und Carl verbringen viel Zeit miteinander. Sie besuchen Theater und Freunde und unterhalten sich auf langen Spaziergängen. Sie verlieben sich und heiraten am 19. August 1913 bei einem Besuch in England. Tatsächlich hat Maud keinerlei materielle Sorgen. Wie groß ihr Vermögen wirklich ist, erfährt Carl erst nach der Hochzeit in England. Fortan lebt Maud mit in Hamburg. Wie ich finde, bestärkt sie Carl unglaublich auf seinem weiteren Weg. Denn Maud von Ossietzky bringt ein Gefühl für Internationalität und Völkerverständigung in sein Leben, wie es stärker und direkter vermutlich nie hätte passieren können, als durch eben diese internationale Partnerschaft. Sie weist ihn in eine klare Richtung. Wie sich das Leben der beiden weiter gestaltet, besonders im 1. Weltkrieg, lesen Sie im nächsten Kapitel der Biografie.


Weiter geht es in Teil 2:
Soldat im Weltkrieg und Friedensaktivist in Hamburg (1914-1919)


Fußnoten

  1. Vgl. Grimm, K.: Als in Hamburg 1892 die Cholera ausbricht, schuften die Totengräber rund um die Uhr. Stern.de (ohne Datum). URL https://www.stern.de/gesundheit/cholera-1892-in-hamburg–so-kam-es-zum-ausbruch-der-gefaehrliche-seuche-8137604.html. (hoch zur Textstelle)
  2. Vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 10. (hoch zur Textstelle)
  3. Zitiert nach: Als die Cholera-Epidemie in Hamburg wütete. NDR. de 15.08.2022. URL: https://www.ndr.de/geschichte/schauplaetze/Als-die-Cholera-Epidemie-in-Hamburg-wuetete,choleraepidemie100.html. (hoch zur Textstelle)
  4. Vgl. ebd. (hoch zur Textstelle)
  5. Vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 9/10. (hoch zur Textstelle)
  6. Vgl. Abgangszeugnis Rumbaumsche Schule zu Hamburg, 19. März 1904. In: Goral-Sternheim, A.: Der Hamburger Carl von Ossietzky und das Gewissen einer Stadt, 1989, S. 22/23; vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 10-13. (hoch zur Textstelle)
  7. Ossietzky, C. v.: Panslavismus, gedruckt in Das freie Volk (19. April 1913). In: Sämtliche Schriften, Band I, 1994, S. 28. Auch in: Carl Ossietzky Kindle-Werksausgabe, 2020, S. 85. (hoch zur Textstelle)
  8. Vgl. Akten der Polizeibehörde Hamburg zur Überwachung der Friedensgesellschaft. In: Goral-Sternheim, A.: Der Hamburger Carl von Ossietzky und das Gewissen einer Stadt, 1989, S. 53-75; vgl. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 33-39. (hoch zur Textstelle)
  9. Vgl. Interview mit Tochter Rosalinde. In: Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 152; vgl. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S.32/33. (hoch zur Textstelle)
  10. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 17/18. (hoch zur Textstelle)
  11. Vgl. Interview mit Tochter Rosalinde. In: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 148. (hoch zur Textstelle)
  12. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 18. (hoch zur Textstelle)

Carl von Ossietzky in 30 Minuten