Carl von Ossietzky Biografie: Publizist und Antifaschist in Berlin (1919-1933)

(Lesezeit etwa 6 Minuten, Stand 8. Dezember2023)

Sie befinden sich im dritten Kapitel der Biografie „Carl von Ossietzky in 30 Minuten“:

  1. Erste Jahre und Liebe zu Maud Hester Lichfield-Woods (1889-1914)
  2. Soldat im Weltkrieg und Friedensaktivist in Hamburg (1914-1919)
  3. Publizist und Antifaschist in Berlin (1919-1933)
  4. Reichstagsbrand und Tod (1933-1938)

Deutsche Friedensgesellschaft in Berlin

In Berlin tritt Carl von Ossietzky im August 1919 seine neue Arbeitsstelle als Generalsekretär der Deutschen Friedensgesellschaft an.1 Beim Umzug ist Maud etwa im vierten Monat schwanger.

Das Geld der beiden reicht hinten und vorne nicht, obwohl sie nur ein kleines Zimmer in einer kalten und feuchten Wohnung beziehen. Durch die Vermittlung einer Bekannten2 gelingt es, die mittlerweile hochschwangere Maud in einem Heim für alleinstehende und mittellose Mütter unterzubringen. Die anderen Bewohnerinnen sind ihr gegenüber anfangs sehr kritisch eingestellt, denn Maud von Ossietzky hat einen Ehemann und trägt dazu noch einen Adelstitel in ihrem Namen. Diese Skepsis legt sich jedoch nach Carls erstem Besuch im Mütterheim sofort: nicht, weil er so charmant auftritt, sondern weil der Anblick des abgemagerten Kerls allen sofort deutlich macht, dass es den beiden auch an allem fehle, erinnert sich Maud.3

Geburt der Tochter

Am 21. Dezember 1919 kommt ihre Tochter Rosalinde zur Welt, benannt nach Rosalind aus dem Theaterstück As you Like it von William Shakespeare. Damit Rosalinde erstmal etwas aufgepäppelt wird und weil die Wohnung der beiden kein Ort für ein kleines Baby ist, darf sie noch fünf Monate nach der Geburt im Krankenhaus bleiben. Das ist besser so, aber es fällt den jungen Eltern natürlich schwer.4 Auch später wird Rosalinde fünf Jahre in einem Kinderheim verbringen.5

Journalist bei der Berliner Volkszeitung

Ende Juni 1920 tritt Carl von Ossietzky als Sekretär bei der Deutschen Friedensgesellschaft zurück und widmet sich von nun an ganz seinem journalistischen Schaffen. Er schreibt für die Berliner Volkszeitung. Am 13. August 1920 publiziert er darin bspw. in Richtung Russland: “Kein System kann sich halten, das Güte, Toleranz, Wertschätzung des Menschenlebens als ‚liberalen Humanitätsdusel‘ verlacht, und Despotismus bleibt Despotismus. […] Aber das Leben ist Vielfältigkeit, Buntheit, Sehnsucht, die Schranken zu überwinden.”6

Und bereits 1921 warnt er als Sonderberichterstatter aus Bayern vor der neuen Gruppierung um Hitler:

”Ein ganz besonderes Kapitel in der Darstellung dieser mysteriösen Organisationen [im reaktionären Bayern] gebührt der ‚National-Sozialistischen Partei‘ eines sichern Hitler […]. Man hat durchweg außerhalb Bayerns in dieser ‚Partei‘ nicht mehr gesehen als eine Krakeelerbande und Stuhlbeingarde [Menschen, die nur viel Lärm machen]. Das ist ein Irrtum: es handelt sich hier um einen äußerst raffiniert arbeitenden und äußerst skrupellosen Geheimbund und eine Stoßtruppe der Gegenrevolution; um ein Sammelsurium […] von […] desperaten [verzweifelten] und zu allem fähigen Burschen.”7

Deutsche Liga für Menschenrechte

Carl von Ossietzky engagiert sich in Berlin — wie auch seine Frau — für Frieden und Völkerverständigung. Aktiv sind sie beim Bund Neues Vaterland, der ab 20. Januar 1922 den Namen Deutsche Liga für Menschenrechte (DLfM) trägt.8 Die DLfM ist eine pazifistische Menschenrechtsorganisation mit guten Verbindungen ins europäische und internationale Ausland, besonders nach Frankreich. Zu ihren prominentesten Mitgliedern gehört bspw. Albert Einstein. Außerdem gehört Ossietzky zu den frühen Initiatoren des Aktionsausschusses zur Nie wieder Krieg-Bewegung.9

„Nie wieder Krieg"-Kundgebung im Berliner Lustgarten, 31. Juli 1921, in der Mitte vorn: Elsa Einstein, Ehefrau von Albert Einstein; hinter ihr, stehend, mit hellem Hut: Maud von Ossietzky; links neben E. Einstein: die US-amerikanische Pazifistin Francis Neilson
Nie wieder Krieg-Kundgebung im Berliner Lustgarten, 31. Juli 1921, an der etwa 200.000 Menschen teilnehmen, in der Mitte vorn: Elsa Einstein, Ehefrau von Albert Einstein; hinter ihr, stehend, mit hellem Hut: Maud von Ossietzky; links neben E. Einstein: die US-amerikanische Pazifistin Francis Neilson (optimiert mit Remini AI).

Carl von Ossietzky beginnt außerdem als Redakteur bei den Wochenzeitschriften Tage-Buch und beim Montag Morgen zu arbeiten.10

Die Weltbühne

Im April 1926 beginnt Carl von Ossietzky für Die Weltbühne erste Leitartikel zu schreiben, die größte linksliberale Wochenzeitschrift in der Weimarer Republik.11 Der Soziologe Ulfried Weißer beschreibt sie als “undogmatisches Forum der radikaldemokratischen bürgerlichen Linken”.12 Hier findet Carl seine Heimat. Bei den ganz radikalen Linken, denen er zwar in der Kapitalismuskritik verbunden ist, vermisst Ossietzky die demokratische Denkart, erklärt Werner Boldt.13 “Ossietzky war kein Marxist”, erinnert sich auch sein Mitarbeiter Axel Eggebrecht, “überhaupt blieb er völlig unabhängig von Denkschablonen und gar Parteiprogrammen. Als überzeugter Demokrat sympathisierte er mit der humanistischen Idee des Sozialismus, und gerade das machte ihn kritisch gegenüber Sozialdemokraten, aber auch den Kommunisten.”14 “Für die Kommunisten”, erklärt Weißer weiter, “war […] [Ossietzky] verachtetes und bekämpftes Symbol der bürgerlichen Opposition, die Sozialdemokraten belächelten ihn als weltfremden Idealisten, für die Liberalen war er ein Republikzerstörer.”15 Diese Beschreibung trifft ihn sehr gut. — Ich glaube, wer sich selbst treu bleibt und dabei trotzdem an allen Rändern irgendwie aneckt, der macht nicht unbedingt alles falsch.

Am 2. Dezember 1926 stirbt Ossietzkys Mentor, der Gründer der Weltbühne Siegfried Jacobsohn. Erst übernimmt der kritische Schriftsteller und Journalist Kurt Tucholsky die Redaktion, übergibt aber bald darauf an Ossietzky. Carl von Ossietzky hat fortan als Herausgeber der Weltbühne ein sehr hohes Arbeitspensum. Seine Frau erinnert sich, dass er in den ganzen Jahren bei der Weltbühne nur zwei Mal Urlaub gemacht habe (bis 1932/33).16

Auch als Herausgeber der Weltbühne bleibt Carl von Ossietzky seinen Prinzipien treu und verfasst weiterhin selbst Artikel. Es folgen Anklagen und Verhaftungen. Besonders mit dem Reichswehrministerium führt das pazifistische Blatt wegen seiner antimilitaristischen Aufklärungsarbeit fast permanent Auseinandersetzungen.

Antifaschist und Gegner der Nazis

Zur mittlerweile stark gewordenen Bewegung des Nationalsozialismus bezieht Carl von Ossietzky weiterhin deutlich Stellung. So schreibt er bspw. am 17. Februar 1931:

“Der Nationalsozialismus mit all seinen sozialrevolutionären Phrasen ist und bleibt […] eine reich dotierte Improvisation der Schwerindustrie, jäh emporgetragen von der Enttäuschung und instinktiven Rebellion des Volkes.”17

1930 erklärt er:

“Das Rezept der Hitlerei [der Bewegung um Adolf Hitler] stammt vom italienischen Faschismus, und man muß zugeben, daß es ein wahrhaft grandioser Volksbetrug ist: Man gibt den unzufriedenen und unruhigen jungen Leuten die Symbole und das Tempo der Revolution und führt sie in die Reaktion. Der Einzelne in der dicht gedrängten Marschkolonne, von stürmischen Zurufen und einer begeisternden Musik beflügelt, weiß nicht, nach welcher Richtung es geht.”18

Derartige Äußerungen sind den kommenden Machthabern (den Nazis) natürlich ein Dorn im Auge. 

Im Jahr 1931 entsteht außerdem das einzige Familienfoto, das alle drei Ossietzkys zusammen zeigt. Es wird bei einem Sommerurlaub in der damaligen Tscheslowakei aufgenommen — leider ist es sehr verschwommen und verwackelt:

Ossietzkys einziges Familienfoto, Sommer 1931 in Štrbské Pleso, damalige Tschechoslowakei
Ossietzkys einziges Familienfoto, Sommer 1931 in Štrbské Pleso, damalige Tschechoslowakei (optimiert mit Remini AI).

Der Weltbühnenprozess

Später im Jahr, im November 1931, wird der berühmte Weltbühnenprozess verhandelt (ein Gerichtsprozess der Regierung gegen Die Weltbühne), heute ein Synonym für die politische Justiz in der Weimarer Republik. Es geht um einen Artikel, der am 12. März 1929 unter Carls Herausgeberschaft in der Weltbühne erschienen ist. Darin legt Walter Kreiser dar, seinerseits sozialdemokratischer Militärexperte, Pionier der deutschen Hubschrauber-Entwicklung und Mitglied der Deutschen Liga für Menschenrechte, dass unter dem Deckmantel der zivilen Luftfahrt heimlich militärische Projekte entwickelt werden. Eine derartige Wiederaufrüstung widerspreche den Bestimmungen des Versailler Vertrags. Denn der Aufbau von Luftstreitkräften war für Deutschland nach dem 1. Weltkrieg verboten. Die Anklage lautet: Landesverrat und Verrat militärischer Geheimnisse. Sowohl der Autor Walter Kreiser als auch der Herausgeber Carl von Ossietzky werden zu je 18 Monaten Haft verurteilt. Kreiser flieht nach Frankreich, Ossietzky tritt seine Gefängnisstrafe am 10. Mai 1932 in der Strafanstalt Berlin-Tegel an.19

Vertreter der Liga für Menschenrechte und Anwälte, 10. Mai 1932 vor der Strafanstalt Tegel: (v.l.n.r.) Kurt Grossmann, Dr. Rudolf Olden, Carl von Ossietzky, Rechtsanwalt Dr. Apfel und Dr. Rosenfeld
Carl von Ossietzky mit Vertretern der Liga für Menschenrechte und Anwälten am 10. Mai 1932 vor der Strafanstalt Tegel: (v.l.n.r.) Kurt Grossmann, Dr. Rudolf Olden, Carl von Ossietzky, Rechtsanwalt Dr. Apfel und Dr. Rosenfeld (optimiert mit Remini AI).

Noch während der Haft, im Sommer 1932, folgt eine weitere Anklage gegen Ossietzky. Die Luft wird dünner, das heißt: die Unterdrückung Andersdenkender nimmt immer mehr zu. In diesem Prozess geht es um das berühmt-berüchtigte Tucholsky-Zitat “Soldaten sind Mörder”, das am 4. August 1931 in der Weltbühne erschienen ist.20 Zumindest in dieser Anklage wird Ossietzky freigesprochen.

Aufgrund einer Weihnachtsamnestie für politische Häftlinge von Hindenburg (Reichspräsident) wird Carl von Ossietzky am 22. Dezember 1932 sogar vorzeitig aus der Haft entlassen, nach 227 Tagen, einen Tag nach dem Geburtstag seiner Tochter. Sein Weg führt ihn direkt in die Redaktion der Weltbühne.21

Carl von Ossietzky in der Redaktion der Weltbühne mit Tochter Rosalinde (geboren am 21. Dezember 1919), am Tag seiner Haftentlassung und einen Tag nach dem 13. Geburtstag seiner Tochter, 22. Dezember 1932 (optimiert mit Remini AI).
Carl von Ossietzky in der Redaktion der Weltbühne mit Tochter Rosalinde (geboren am 21. Dezember 1919), am Tag seiner Haftentlassung und einen Tag nach dem 13. Geburtstag seiner Tochter, 22. Dezember 1932 (optimiert mit Remini AI).

Lange bleibt Carl jedoch nicht auf freiem Fuß.


Weiter geht es mit Teil 4:
Reichstagsbrand und Tod (1933-1938)


Fußnoten

  1. Vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 49. (hoch zur Textstelle)
  2. Helene Stöcker (1869-1943), eine deutsche Frauenrechtlerin, Sexualreformerin, Pazifistin und Publizistin, gründete 1905 den Bund für Mutterschutz. (hoch zur Textstelle)
  3. Vgl. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 55/56. (hoch zur Textstelle)
  4. Vgl. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 58/59. (hoch zur Textstelle)
  5. Ab ihrer Einschulung von 1925 bis 1930; vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 50. (hoch zur Textstelle)
  6. Ossietzky, C. v.: Rotrußland, gedruckt in Berliner Volks-Zeitung (13. August 1920). In: Sämtliche Schriften, Band I, 1994, S. 246-251, hier S. 251. (hoch zur Textstelle)
  7. Ossietzky, C. v.: Von Kahr zu Lerchenfeld. Stimmungswechsel. Der neue Mann. Die Stellung der Bayerischen Volkspartei. Die Isolierung der Deutschnationalen. Reaktionäre Geheimbündelei. Die Bauerninvasion. Überbleibsel des Kahr-Regimes, gedruckt in Berliner Volks-Zeitung (27. September 1921). In: Sämtliche Schriften, Band I, 1994, S. 548-552, hier S. 550/551. (hoch zur Textstelle)
  8. Vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 51. (hoch zur Textstelle)
  9. Vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 66/67. (hoch zur Textstelle)
  10. Vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 96/97. (hoch zur Textstelle)
  11. Video Universität Oldenburg: Ich erinnere mich immer gerne an ihn – Ossietzky zum 80. Todestag, URL: https://www.youtube.com/watch?v=k-DJhXvBNj4. (hoch zur Textstelle)
  12. Weißer, U.: Neutral! – Ein friedlicher Weg für Deutschland, 2021, S. 226. (hoch zur Textstelle)
  13. Vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 62. (hoch zur Textstelle)
  14. Eggebrecht, A.: Der halbe Weg – Zwischenbilanz einer Epoche, 1975, S. 223. (hoch zur Textstelle)
  15. Weißer, U.: Neutral! – Ein friedlicher Weg für Deutschland, 2021, S. 226/227. (hoch zur Textstelle)
  16. Vgl. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 73. (hoch zur Textstelle)
  17. Ossietzky, C. v.: Winterkönig, gedruckt in Die Weltbühne (17. Februar 1931). In: Sämtliche Schriften, Band VI, 1994, S. 33-36, hier S. 36. Auch in: Carl Ossietzky Kindle-Werksausgabe, 2020, S. 2912. (hoch zur Textstelle)
  18. Ossietzky, C. v.: Nationalsozialismus oder Kommunismus?, gedruckt in Der Rote Aufbau, Nr. 9 (September 1930). In: Sämtliche Schriften, Band V, 1994, S. 435-436, hier S. 453. Auch in: Carl Ossietzky Kindle-Werksausgabe, 2020, S. 2786. (hoch zur Textstelle)
  19. Vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 173-190. (hoch zur Textstelle)
  20. Als Soldaten zu Mördern wurden. Handelsblatt (04.08.2011). URL: https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/kunstmarkt/tucholsky-zitat-als-soldaten-zu-moerdern-wurden/4463910.html. (hoch zur Textstelle)
  21. Vgl. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 87. (hoch zur Textstelle)

Carl von Ossietzky in 30 Minuten